Quijottes zweite Aventiure


Nach dem schon erwähnten Abenteuer mit dem Puppenspiel kommt im Kapitel II eine der merkwürdigsten Aventiuren der Novelle, in der Don Quijote über das unvermeidbare Schicksal der Ritter spricht: ihre Leben und jetzt auch seines, war von der Providenz vorherbestimmt. Nur die Hand Gottes, dem sie dienen, kann sie führen: Seine Übermächtigkeit kann sie wunderbar helfen oder schrecklich schlagen. Die Art und Weise, wie Cervantes dieser Philsophie des Lebens parodiert, wird hier analysiert

Das hier zu analysierende Abenteur in II, 29 ist nun das letzte Abenteuer, das don Quijote und Sancho vor der Ankunft am Hof der Herzöge erleben und das in deutlichem Kontrast zu dieser Vereinnahmung steht: Am Ufer des Flusses Ebro erblickt don Quijote, wie im ersten Teil, durchaus aktiv einen Anlass für seine ritterliche Bewährung.

Don Quijote kommt, nachdem er in die Höhle des Montesinos hinabgelassen wurde und maese Pedro alias Ginés de Pasamonte als Puppenspieler wieder begegnet ist, an den Ebro, an dem zunächst scheinbar eine bukolische Liebeslandschaft aufgerufen wird, die don Quijote „amorosos pensamientos“ also „Liebesgedanken“ eingibt. Das ritterliche Paradigma gewinnt jedoch schnell wieder die Überhand, als er am Ufer des Flusses ein ruderloses Boot vertäut sieht, das er als persönliche Aufforderung betrachtet, ein Abenteuer zu bestehen. Also belehrt er Sancho mit einer kleinen Abhandlung zur Bedeutung der Situation aus seiner ritterlichen Erfahrung heraus:

„Du mußt wissen, Sancho, der Nachen hier ist dazu da, und anders kann es nicht sein, mich zu rufen und aufzufordern, daß ich hineinsteige und darin fortschiffe, um Beistand zu leisten irgendeinem Ritter oder sonst einer hilfsbedürftigen Persönlichkeit, die gewißlich von großen Nöten bedrängt sein muß; denn so pflegt es in den Ritterbüchern zu sein und bei den Zauberern, die mit solchen Geschichten zu tun haben; wenn ein Ritter sich in einer Drangsal befindet und aus selbiger nur durch eines andern Ritters Hand erlöst werden kann, obgleich sie zwei- oder dreitausend Meilen, ja noch weiter voneinander entfernt sind, da entführen sie ihn gewaltsam in einer Wolke oder bieten ihm einen Nachen dar, damit er dareinsteige, und in kürzerer Zeit, als man die Augen öffnet und schließt, führen sie ihn davon, sei es durch die Lüfte, sei es das Meer hindurch, wie es ihnen beliebt, und wo sein Beistand notwendig ist.“ (Übers. Braunfels, 767)

In dieser kurzen Passage verdichten sich wichtige Moment der Sujet- als auch der Raumstruktur der Ritterromane: der klassische Ritter, dem don Quijote nacheifert, operiert in einer von Providenz bestimmten Welt, in der kein Element zufällig, sondern jeweils Wink eines Schickals ist: Boote, selbst wenn sie ohne Ruder sind, liegen nicht einfach so am Ufer vertäut, sondern sie sind dafür bestimmt, dass der Ritter sie nutzt, weil eine höhere Macht (hier ein „encantador“) sie mit ihnen als Transportmittel an einen vorbestimmten Ort bringen soll, wo ein Abenteuer auf ihn wartet, hat, das z.B. darin besteht, einem anderen Ritter zu helfen. Hierbei kann sich don Quijote in der Tat auf Vorbilder aus dem Ritterroman berufen, wo das verzauberte Boot – insbesondere in der arthurischen Tradition – eine lange Vorgeschichte hat.

Raum und Zeit werden zu bloßen Funktionen einer Sujetstruktur, sie haben kein Eigengewicht.

Genau dieser Erwartung an ein ritterliches Raumzeitgefüge verleiht nun don Quijote Ausdruck, wenn er davon spricht, dass, wenn es um eine Hilfeaktion für einen anderen Ritter ginge, Zauberer bewirken könnten, dass er instantan über mehrere Tausen Meilen hinweg in einem Boot oder einer Wolke versetzt werden könne.

Auch diese instantane Versetzung im Raum hat durchaus konkrete Vorbilder: Hier soll vor allem der der vielleicht unmittelbarste Prätext der Episode untersucht werden, nämlich ein Abenteuer aus dem Palmeirim de Inglaterra.

Cervantes’ parodistische réécriture der Palmeirim-Episode macht sich diese Ortlosigkeit des Ritterromans zu Nutze, um die ferne Geographie des Wunderbaren mittels Intertextualitätssignalen mit einer spanischen Nahwelt des Alltags zu überblenden, und verwendet dafür die für den Roman typische Doppelperspektivierung: Wo don Quijote wie Palmeirim einen Wink des Schicksals sieht, der ihn aufs offene Meer führt, sehen Sancho und mit ihm der Erzähler nur ein – noch dazu ruderloses – Fischerboot auf dem Ebro. So warnt Sancho, wie Palmeirims Knappe Selvião, auch entschieden, aber vergeblich davor, sich auf das Abenteuer einzulassen, und geht doch schließlich ängstlich selbst mit auf die Reise. Angesichts seiner Angst ermahnt ihn don Quijote mit den folgenden Worten:

„Was fürchtest du, feiges Geschöpf? Worüber weinst du, Butterherz? Wer verfolgt dich, wer bedrängt dich, du Maus, die sich im Loche duckt? Oder was geht dir ab, und darbst du etwa im Schoß des Überflusses? Pilgerst du etwa zu Fuß und barfüßig über die Rhypäischen Gebirge oder sitzest du nicht vielmehr hier, wo eine breite Planke dir einen Sitz gewährt wie einem Erzherzog, auf der geruhsamen Strömung dieses lieblichen Flusses, von wo wir nach kurzer Weile in das weite Meer hinausfahren werden? Aber schon müssen wir hinausgekommen und mindestens sieben- oder achthundert Meilen weit gefahren sein (...)“ (768)

Don Quijote glaubt also, während der Kahn gemächlich den Ebro hinuntertreibt, tatsächlich an die quasi-momenthafte Versetzung im Raum, wenn er davon ausgeht, bereits ein gutes Stück des Weges zurückgelegt zu haben, d.h. 700 oder 800 Meilen von insgesamt 2000 oder 3000. In der Folge geht es mir weniger um die evidente komische Brechung dieser Annahme angesichts des ruhigen Treibens des Kahns auf dem Fluss, in ständiger Sichtweite des Ufers und des dort angebundenen Rocinante sowie Sanchos Esel, sondern vielmehr um die vorstellungsmäßige Veränderung, der don Quijote die Wunderwelt des Ritterromans unterzieht. Bereits die Tatsache, dass er die Versetzung im Raum überhaupt in Zahlen auszudrücken bemüht ist, deutet den entscheidenden Umschwung an: Don Quijote hat eine präzise geographische Vorstellung der Räume, durch die er sich scheinbar bewegt – dadurch ist er in der Lage, eine zumindest prinzipielle Kontinuität zwischen dem Fluss, auf dem er sich tatsächlich befindet, und dem Meer, auf das er hinauszufahren glaubt, herzustellen.

Zu Beginn des zweiten Teils des Romans beklagt sich don Quijote, dass kein Ritter – er meint damit offensichtlich die Höflinge am Hof des Königs – mehr bereit sei, sich den körperlichen Strapazen einer authentischen Ritterschaft auszusetzen, wobei er als ein Beispiel unter anderem die Bereitschaft nennt, in ein am Meeresrand bereit liegendes Boot einzusteigen, womit der das Abenteuer in II bereits vorwegnimmt:

„[Jetzo gibt es] keinen mehr, der, aus dem Wald hier hervorstürmend, in des Gebirge dort eindringen würde und von da aus ein unfruchtbares, wüstes Gestade beschreiten am Rande der See, der fast immer stürmischen und wildbewegten, und der sich am Meeresstrande unverzagten Herzens in einen kleinen Kahn ohne Ruder, Segel, Mast und Tauwerk, den er dort gefunden, hineinwerfen würde und sich preisgäbe den unerbittlichen Wogen des tiefen Meeres, die ihn bald zum Himmel emporschleudern, bald in den Abgrund hinabreißen. Und er, die Brust dem unwiderstehlichen Sturmestoben bietend, plötzlich, im Augenblick, wo er sich dessen am wenigsten versieht, findet sich über dreitausend und mehr Meilen entfernt von dem Orte, wo er zu Schiff gegangen; und wie er nun ans Land springt, ein entlegenes und unbekanntes Land, da begegnet ihm gar vieles, das würdig ist, nicht auf Pergament, sondern auf Erz niedergeschrieben zu werden.“ (554)

Als Ausweis der Authentizität seines Rittertums fungiert für don Quijote dabei in erster Linie der Körpereinsatz, der seiner Einbildungskraft zu Hilfe kommen, sie realisieren muss. Und indem er als sein persönliches Feindbild die Faulheit der Höflinge beschreibt, die nicht in der Lage seien, Ritterlichkeit tatsächlich körperlich auszuagieren, nennt er damit, ohne es zu wissen, den Prototyp einer konsequent modernen Imagination, die nicht darauf angewiesen ist, sich körperlich auszuagieren, sondern die sich mit imaginären Reisen begnügt. In Kapitel II, 6 taucht der in der Zeit Cervantes’ weit verbreitete Topos des imaginären Reisens wiederum in Zusammenhang mit einer Kritik der faulen Höflinge auf, als don Quijote seine „ama“, seine Haushälterin, über den Unterschied zwischen fahrenden Rittern und Adligen am Hof belehrt:

„Sieh, meine Liebe“, antwortete Don Quijote, „nicht alle Ritter können Hofleute sein, und nicht alle Hofleute können oder sollen fahrende Ritter sein. Es muß von aller Art Leute in der Welt geben, und wiewohl wir insgesamt Ritter sein mögen, so ist doch ein großer Unterschied zwischen den einen hier und den anderen dort. Denn die Ritter vom Hof, ohne ihre Gemächer zu verlassen und die Schwelle des Königshauses zu überschreiten, die spazieren auf einer Landkarte durch die ganze Welt, und es kostet sie keinen Pfennig, und sie erdulden dabei nicht Hitze noch Kälte, weder Hunger noch Durst; wir aber, die wahren, die fahrenden Ritter, in Sonnenglut und Frost, in freier Luft und in allem Ungemach des Wetters, bei Tag und Nacht, zu Fuß und zu Pferde, wir durchmessen die weite Erde mit unsern eignen Füßen. Und nicht nur Feinde in Abbildungen kennen wir, sondern solche von Fleisch und Blut (...)“ (586)