Wie Siegfried Krimhild zuerst sah

(Nibelungenlied, 5. Aventiure, um 1200)



Da kam die Minnigliche / wie das Morgenrot

Tritt aus trüben Wolken / Da schied von mancher Not,

Der sie im Herzen hegte / was lange war geschehn.

Er sah die Minnigliche / nun gar herrlich vor sich stehn.

Von ihrem Kleide leuchtete / mancher edle Stein.

Ihre rosenrote Farbe / gab wonniglichen Schein.

Was jemand wünschen mochte / er mußte doch gestehn,

Daß er hier auf Erden / noch nicht so Schönes gesehn.

Wie der lichte Vollmond / vor den Sternen schwebt,

Des Schein so hell und lauter / sich aus den Wolken hebt,

So glänzte sie in Wahrheit / vor andern Frauen gut:

Das mochte wohl erhöhen / den zieren Helden den Mut.

(...)

Er sann in seinem Sinne / "Wie dacht' ich je daran,

Daß ich dich minnen sollte? / das ist ein eitler Wahn;

Soll ich dich aber meiden / so wär' ich sanfter tot."

Er ward von den Gedanken / oft bleich und oft wieder rot.

Da sah man den Sieglindensohn / so minniglich da stehn,

Als wär' er entworfen / auf einem Pergamen

Von guten Meisters Händen / gern man ihm zugestand,

Daß man nie im Leben / so schönen Helden noch fand.

Die mit Kriemhilden gingen / die hießen aus den Wegen

(...)

Er trug in seinem Herzen / Freude sonder Leid,

Daß er der schönen Ute / Tochter sollte sehn.

In minniglichen Züchten / empfing sie Siegfrieden schön.

Als sie den Hochgemuten / vor sich stehen sah,

Seine Farbe ward entzündet / die Schöne sagte da:

"Willkommen, Herr Siegfried / ein edler Ritter gut."

(..)

Doch kann ich auch nicht glauben / daß es unterblieb:

Sie ließ gar bald ihn merken / daß er ihr war von Herzen lieb.

Zu des Sommers Zeiten / und in des Maien Tagen

Durft' er in seinem Herzen / nimmer wieder tragen

So viel hoher Wonne / als er da gewann,

Da die ihm an der Hand ging / die der Held zu minnen sann